Scriptio continua - Warum die ältesten Abschriften des Neuen Testaments ohne Satzzeichen geschrieben wurden – und was das für die Bibelauslegung bedeutet
- vw1575
- vor 5 Tagen
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Wer eine moderne Bibel aufschlägt, findet einen sorgfältig gegliederten Text: Kapitel, Verse, Absätze, Satzzeichen, Zwischenüberschriften. All das hilft, sich im Text zu orientieren, erleichtert das Lesen und bietet einen Rahmen für das Verständnis. Doch so sah das Neue Testament in seinen ältesten erhaltenen Handschriften nicht aus. Im Gegenteil:
Die frühesten Manuskripte des Neuen Testaments wurden durchgängig in Großbuchstaben (Majuskeln) und ohne Leerzeichen, Punkt oder Komma geschrieben – eine Praxis, die als scriptio continua bekannt ist.
Dieser Befund ist nicht nur eine kuriose Randnotiz der Textgeschichte. Er hat Konsequenzen für die Frage, wie frühchristliche Gemeinden Texte verstanden und wie wir heute mit schwierigen oder mehrdeutigen Stellen umgehen sollten.
Was ist „scriptio continua“?
Der Begriff scriptio continua (lateinisch für „zusammenhängende Schrift“) bezeichnet eine kontinuierliche Aneinanderreihung von Buchstaben ohne Worttrennungen oder Satzzeichen. So sieht ein Text in dieser Form aus: ΚΑΤΑΡΧΗΝΗΝΟΛΟΓΟΣΚΑΙΟΛΟΓΟΣΗΝΠΡΟΣΤΟΝΘΕΟΝ
In heutiger Schreibweise:
Κατ᾿ ἀρχὴν ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν
(„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott“ – Joh 1,1)
Solche Manuskripte sind keine Ausnahme, sondern der Regelfall bei den ältesten Textzeugen des Neuen Testaments – etwa im Codex Sinaiticus oder Codex Vaticanus, die aus dem 4. Jahrhundert stammen.
Warum wurde so geschrieben?
1. Platzersparnis
Papyrus und Pergament waren kostbare Materialien. Durchgehendes Schreiben ohne Leerstellen sparte Platz und damit Geld.
2. Konvention der Antike
Die scriptio continua war üblich in der antiken Buchkultur, nicht nur bei christlichen Texten. Auch griechische und lateinische Werke von Philosophen, Historikern und Dramatikern wurden so geschrieben.
3. Für das Vorlesen gedacht
Viele frühchristliche Texte wurden nicht privat gelesen, sondern in der Gemeinde vorgelesen. Die Lesekunst war oft eine Auslegungskunst: Der Vorleser musste entscheiden, wo ein Satz endete, wo ein neuer Gedanke begann – also interpretieren.

Welche Folgen hat das für die Bibelauslegung?
Die scriptio continua macht deutlich: Die Gliederung des Textes war von Anfang an nicht eindeutig, sondern Auslegungssache.
Ein besonders markantes Beispiel dafür ist Römer 9,5 – eine Stelle mit hohem theologischen Gewicht.
Im Griechischen Original ohne Interpunktion:
…ἐξ ὧν ὁ Χριστός τὸ κατὰ σάρκα ὁ ὢν ἐπὶ πάντων θεὸς εὐλογητὸς εἰς τοὺς αἰῶνας ἀμήν
Zwei mögliche Lesarten:
1. Christus wird als Gott bezeichnet:
„…aus ihnen stammt Christus dem Fleisch nach; er ist Gott über allem, gepriesen in Ewigkeit. Amen.“
2. Christus und Gott werden unterschieden:
„…aus ihnen stammt Christus dem Fleisch nach. Gott, der über allem steht, sei gepriesen in Ewigkeit. Amen.“
Beide Übersetzungen sind grammatikalisch möglich – aber sie unterscheiden sich christologisch massiv:
• Die erste Lesart spricht von einer Gottheit Christi in aller Klarheit.
• Die zweite trennt den Menschen Christus und die Anbetung Gottes voneinander – eine Variante, die z. B. Unitarier bevorzugen.
Und was entscheidet zwischen beiden? Die Interpunktion. Denn im ältesten Text ist kein Punkt nach „dem Fleisch nach“. Ob man dort einen Punkt setzt oder nicht, ist eine editorische Entscheidung – mit enormer theologischer Tragweite.
Die Rolle der heutigen Interpunktion
Unsere modernen Bibelausgaben und wissenschaftlichen Ausgaben wie das Nestle-Aland-Neues Testament oder die UBS-Ausgabe bieten eine bestimmte Interpunktion – aber diese ist nicht durch die ältesten Handschriften festgelegt, sondern das Ergebnis redaktioneller Interpretation.
Das bedeutet: Interpunktion ist Theologie. Was in einem alten Manuskript offen und mehrdeutig bleibt, wird durch heutige Satzzeichen oft verengt und festgelegt.
Was heißt das für den Glauben?
Die scriptio continua erinnert daran, dass der biblische Text nicht starr ist, sondern lebt – im Lesen, im Hören, im Auslegen.
Die ersten Christ*innen lebten mit Texten, die mehrdeutig, offen und interpretationsbedürftig waren – und gerade darin lag ihre Kraft:
Der Text war nie „fertig“, sondern musste im Licht des Glaubens verstanden werden.
Vielleicht sollten wir uns heute wieder mehr trauen, biblische Texte nicht nur zu lesen, sondern wirklich zu deuten – mit der Freiheit und Verantwortung, die schon die ersten Gemeinden getragen hat.
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