Ist der "Engel des Herrn" Gott selbst? Ein Blick ins Alte Testament
- vw1575
- 7. Apr.
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In der hebräischen Bibel begegnet uns immer wieder eine geheimnisvolle Figur: der "Engel des Herrn" (mal'ach YHWH). Mal erscheint er im Singular, mal im Plural, manchmal mit menschlichen Zügen, manchmal als sprachloses Instrument. Doch eine genaue Analyse der einschlägigen Texte zeigt: Dieser Engel ist weit mehr als ein Bote. Er ist in vielen Fällen selbst Gott.
Der Engel als Gott: Biblische Befunde
Bereits im Buch Genesis wird deutlich, dass die Identität des Engels des Herrn mit Gott verschwimmt. In Genesis 16 erscheint der Engel Hagar in der Wüste. Er spricht in der Ich-Form, verheisst Nachkommenschaft und Rettung. Doch am Ende der Begegnung heißt es:
"Da nannte sie den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht." (Gen 16,13)
Der Erzähler identifiziert den Engel hier eindeutig mit Gott. Ein ähnliches Muster findet sich in Exodus 3. Mose begegnet "dem Engel des HERRN in einer Feuerflamme mitten aus dem Dornbusch". Doch wenige Verse später heißt es:
"Als aber der HERR sah, dass er hinzutrat, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Dornbusch an ..." (Ex 3,4)
Der Engel ist der Ort der Gottesoffenbarung. Auch in Richter 6 (Gideon) und Richter 13 (Manoach) zeigt sich dieselbe Struktur: Zuerst spricht ein Engel, dann heisst es, dass der HERR geredet habe. Besonders eindrücklich: Als Manoach erkennt, wen er gesehen hat, sagt er:
"Wir werden gewißlich sterben, denn wir haben Gott gesehen." (Ri 13,22)

Genesis 18: Abraham und die drei Männer
Ein besonders faszinierendes Beispiel für die Identität von Engel und Gott findet sich in Genesis 18. Drei Männer erscheinen Abraham bei den Eichen von Mamre. Abraham eilt ihnen entgegen, verneigt sich tief und sagt:
"Mein Herr, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, geh doch nicht an deinem Knecht vorüber." (Gen 18,3)
Der Text wechselt zwischen Singular und Plural. Mal ist von "drei Männern" die Rede, mal spricht der Text nur von einem, der als "der HERR" (JHWH) bezeichnet wird. Dieser eine redet mit Abraham über die Zukunft Saras und über das kommende Gericht über Sodom. Die beiden anderen gehen später weiter und erscheinen in Genesis 19 als die beiden Engel in Sodom.
Die frühere rabbinische wie auch die christliche Tradition sieht in dieser Begegnung eine Theophanie: Gott erscheint Abraham in Gestalt dreier Männer, von denen einer selbst JHWH ist. Die Geste Abrahams der tiefen Verneigung und das Mahl, das er ihnen bereitet, sind keine bloße Gastfreundschaft, sondern Zeichen der Gottesbegegnung.
Genesis 19: Zwei Engel, ein Gott
In Genesis 19 wird die Mehrdeutigkeit besonders deutlich. Zwei Engel kommen nach Sodom (19,1). Lot begegnet ihnen mit einer Verneigung bis zur Erde (19,1b), eine Geste, die sonst Gott vorbehalten ist. Sie sprechen zuerst in der Wir-Form ("Wir werden diesen Ort vernichten", V.13), doch später sagt einer von ihnen:
"Siehe, ich habe dich auch in dieser Sache erhört ... ich werde die Stadt nicht umkehren." (V.21)
Und in Vers 24 liest man:
"Da ließ der HERR Schwefel und Feuer regnen auf Sodom und Gomorra von dem HERRN her, vom Himmel herab."
Zwei Erwähnungen von JHWH in einem Vers: Ein starkes Indiz für eine theophane Erscheinung Gottes selbst.
Botenform und Wesenseinheit
Biblisch gesehen ist der Begriff "Engel" (mal'ach) funktional, nicht wesenhaft. Ein mal'ach ist ein Gesandter, ein Beauftragter. Wenn Gott sich offenbart, benutzt er manchmal diese Sprachform, ohne sich damit von sich selbst zu trennen. Der Engel des Herrn ist kein Geschöpf unter anderen, sondern ein Modus der Gottesbegegnung. Er spricht mit Autorität, verheisst, richtet, segnet – alles, was Gott tut.
In der rabbinischen Tradition wird dies oft durch das Prinzip des shaliach erklärt: "Der Gesandte ist wie der, der ihn sendet." Im Unterschied dazu sieht die christliche Theologie – vor allem in patristischer Zeit – im Engel des Herrn eine Vorerscheinung Christi. Beide Perspektiven erkennen: Der Engel handelt nicht nur im Namen Gottes, sondern als Gott selbst.
Fazit
Die Engel des Herrn in der Hebräischen Bibel sind keine bloßen Boten. Sie sind Erscheinungsformen Gottes selbst. Die Bibel trennt nicht strikt zwischen Bote und Absender, sondern lässt sie ineinanderfließen. Gerade in Genesis 18 und 19 wird dies besonders deutlich: Abraham und Lot begegnen nicht einfach nur drei bzw. zwei Boten, sondern Gott selbst – in vermenschlichter, zugänglicher Form. Damit wird der Engel des Herrn zur Scharnierfigur zwischen dem unsichtbaren Gott und seiner erfahrbaren Gegenwart in der Welt.
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