„Jesus ist für uns gestorben“ – Eine moderne Deutung
- vw1575
- 19. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Apr.
1. Einleitung
„Jesus ist für uns gestorben.“ Kaum eine christliche Formel ist so zentral – und zugleich so umstritten. In konservativ-evangelikalen Kreisen wird dieser Satz oft wörtlich verstanden: Christus habe an unserer Stelle die Strafe für unsere Sünden getragen, um uns vor dem göttlichen Zorn zu retten. Doch in der progressiven Theologie werden diese traditionellen Deutungsmuster zunehmend hinterfragt. Was bedeutet es also aus heutiger Sicht, wenn wir sagen: „Jesus ist für uns gestorben“?
2. Die klassische Satisfaktionslehre: Ein Überblick
Die Vorstellung, dass Jesus „für uns“ gestorben sei, gründet sich insbesondere auf neutestamentliche Texte wie:
• Röm 5,8: „Christus ist für uns gestorben, als wir noch Sünder waren.“
• 1 Petr 2,24: „Er hat unsere Sünden selbst an seinem Leib getragen.“
• Joh 1,29: „Das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegträgt.“
In der westlichen Theologiegeschichte wurde diese Aussage maßgeblich durch Anselm von Canterbury (11. Jh.) geprägt. In seinem Werk Cur Deus Homo entwickelte er die Satisfaktionstheorie: Die Ehre Gottes sei durch menschliche Sünde verletzt worden. Nur ein Mensch-Gott könne diese Ehre durch sein Opfer wiederherstellen.
Später radikalisierte die reformatorische Theologie (besonders Calvin) dieses Modell zur Straf- oder Substitutionslehre: Jesus stirbt anstelle des sündigen Menschen, um den göttlichen Zorn zu besänftigen. Diese Vorstellung wurde zur Grundlage vieler evangelikaler Sühneverständnisse.
3. Kritik am traditionellen Sühneverständnis
a) Anthropologische Problematik
Das klassische Modell basiert auf einem juristischen Menschenbild: Der Mensch ist Schuldner, Gott der Richter. Dieses Modell spiegelt ein mittelalterliches Gesellschaftsverständnis, nicht notwendigerweise das Gottesbild Jesu.
b) Gottesbild
Ein Gott, der den Tod seines Sohnes braucht, um zu vergeben, erscheint vielen modernen Gläubigen ethisch und spirituell fragwürdig. Progressive Theologen lehnen daher ein Gottesbild ab, das auf Zorn, Rache und Blutopfer beruht.
Nicht Gott musste versöhnt werden, sondern der Mensch.

4. Progressive Perspektiven: Jesus’ Tod als Ausdruck radikaler Liebe
a) Befreiungstheologische Deutung
In der Befreiungstheologie (z. B. Gustavo Gutiérrez, Dorothee Sölle) ist Jesu Tod kein Opfer, sondern das Konsequenz seines kompromisslosen Eintretens für Gerechtigkeit. Er stirbt, weil er sich mit den Ausgegrenzten identifiziert – nicht, weil Gott es verlangt.
Es war kein göttlicher Plan, sondern ein menschliches Todesurteil.
b) Politische Dimension
Jesus stirbt als Opfer von Gewalt und Machtmissbrauch – ein subversiver Prediger, der dem römischen Imperium und der religiösen Elite gefährlich wurde. Sein Tod stellt nicht einen göttlichen Heilsmechanismus dar, sondern entlarvt die Gewaltmechanismen dieser Welt.
Jesus wurde hingerichtet, weil er den Herrschenden zu gefährlich wurde – nicht, weil Gott es wollte.
5. Paulinische Ambivalenz: Mehrdeutigkeiten im Neuen Testament
Die paulinische Theologie spricht oft von Jesu Tod „für uns“ – aber was damit gemeint ist, bleibt offen:
• Röm 3,25: „Gott hat ihn hingestellt als Sühnemittel durch den Glauben.“
→ Das Wort hilastērion (ἱλαστήριον) ist vieldeutig – es kann Opfer, Ort der Versöhnung oder Gnadenzuspruch bedeuten.
Progressive Exegese betont daher: Paulus ringt um Worte. Er erklärt nicht, wie Jesu Tod wirkt, sondern dass darin eine befreiende Kraft liegt.
6. Neuere Modelle: Metaphorik statt Mechanik
Moderne Theologen wie Paul Tillich, Hans Küng, Jürgen Moltmann oder Richard Rohr sprechen weniger von Sühne als von Selbsthingabe, Liebe und Solidarität:
• Tillich sieht in Jesu Tod den Ausdruck göttlicher Annahme: Gott geht selbst ins Verlassensein hinein.
• Moltmann spricht von einem leidenden Gott, der am Kreuz selbst leidet und nicht nur zuschaut.
• Rohr versteht das Kreuz als kosmisches Symbol der Transformation: Schmerz wird nicht umgangen, sondern verwandelt.
Am Kreuz stirbt Gott an der Gottverlassenheit – mit uns und für uns.
7. Jesus stirbt für uns – aber wie?
Statt ein mechanisches Erlösungsmodell zu vertreten, betonen progressive Deutungen:
• Jesus stirbt für uns, weil er bei uns bleibt, selbst im Leiden.
• Jesus stirbt für uns, weil er die radikale Liebe Gottes lebt, bis in den Tod.
• Jesus stirbt für uns, indem er uns zeigt, was es heißt, sich selbst zu verschenken – ohne Gewalt, ohne Macht, ohne Rache.
Die Formulierung „für uns gestorben“ wird so zu einem metaphorischen Ausdruck für göttliche Solidarität und befreiende Liebe – nicht für ein blutiges Opfer, das Gott fordert.
8. Fazit: Das Kreuz als Zeichen radikaler Nähe
In der progressiven Theologie ist das Kreuz kein göttlicher Strafvollzug, sondern das tiefste Zeichen göttlicher Nähe. Jesus stirbt, weil er liebt, nicht weil Gott es verlangt. Er stirbt nicht, um einen Preis zu zahlen, sondern um den Weg der Liebe bis zum Ende zu gehen – für uns, mit uns, an unserer Stelle, aber nicht als Erfüllung eines rachsüchtigen Plans.
„Jesus ist für uns gestorben“ heißt dann: Gott ist da, auch in Gewalt, Dunkelheit und Tod. Und darin liegt die Hoffnung: Dass selbst im Letzten noch Liebe möglich ist.
Stellvertretung und "Für-uns"-Formulierungen
Röm 5,6-8 | Christus ist schon zu der Zeit, da wir noch schwach waren, für uns Gottlosen gestorben. | Paulus beschreibt die Liebe Gottes, die sich gerade im Tod Jesu für "Feinde" zeigt. Klassisch als stellvertretender Opfertod, progressiv als Zeichen göttlicher Solidarität. |
1Kor 15,3 | Christus ist gestorben für unsere Sünden nach der Schrift. | Frühes Bekenntnis. "Nach der Schrift" verweist wohl auf Jes 53. Für konservative Theologen Beleg für Sühne, für progressive: Deutung der Gemeinde im Rückblick. |
2Kor 5,14f | Einer ist für alle gestorben, also sind sie alle gestorben. | Paulus beschreibt eine existentielle Teilhabe an Jesu Tod. Progressiv interpretiert: Transformation des Lebens, nicht juristischer Tausch. |
Gal 2,20 | Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe ... das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich dahin gegeben hat. | Betonung der persönlichen Beziehung zu Christus. Der "Hingabe"-Begriff lässt auch eine moralische oder existenzielle Deutung zu. |
Joh 15,13 | Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. | Jesu Worte vor dem Tod: Der Tod als Ausdruck der Liebe, nicht als Bezahlung. Zentral für progressive Auslegung. |
Versöhnung / Sühne / Opfer
Röm 3,24f. | ...und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Ihn hat Gott dargestellt als Sühnemittel durch den Glauben, in seinem Blut. | Zentrale Stelle für die klassische Sühnelehre. Das griechische Wort ἱλαστήριον (hilasterion) kann als Sühnemittel oder Ort der Versöhnung gedeutet werden - progressiv als Symbol der Gnade, nicht als Strafvollzug. |
Hebr 9,26 | ...jetzt aber ist er ein für alle Mal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde abzutun. | Kultische Sprache. In progressiver Auslegung wird betont: Jesus hebt das Opferwesen auf, statt es zu bestätigen. |
1Joh 2,2 | Er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt. | Betonung der universalen Wirkung. Progressiv als Ausdruck der allumfassenden Gnade, nicht als exklusives Sühnegeschehen. |
1Petr 2,24 | Er hat unsere Sünden selbst hinaufgetragen an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben. | Bild vom "Tragen" der Sünden. Progressiv als Symbol für solidarisches Leiden gedeutet. |
Jes 53,4-6 | Fürwahr, er trug unsre Krankheit ... die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten. | In der Urkirche stark messianisch verstanden. Fundamentalistisch als direkte Voraussage der Kreuzigung, progressiv als Bild für den leidenden Gerechten, nicht notwendig auf Jesus allein bezogen. |
Jesu Selbstdeutung und Abendmahl
Mk 10,45 | Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben als Lösegeld für viele. | Das Wort Lösegeld (λύτρον) wurde klassisch juristisch gedeutet. Progressiv als symbolische „Hingabe zur Befreiung“ verstanden. |
Lk 22,19f. | Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. […] Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird. | Abendmahlsworte betonen das „Für-euch“. In konservativer Theologie wörtlich, in progressiver eher als Gedächtnishandlung mit existenzieller Tiefe. |
Joh 10,11 | Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. | Bildhaftes Reden Jesu – in progressiver Theologie eher als Ausdruck seiner konsequenten Liebe verstanden, nicht als blutiges Opfer. |
Gerechtigkeit und Gnade
Röm 5,18 | Wie nun durch die Sünde des Einen die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen. | Klassisch: objektive Rechtfertigung durch Jesus. Progressiv: universales Hoffnungsbild, keine exklusiv juristische Heilsordnung. |
2Kor 5,19 | Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu. | Betonung liegt auf Gottes Initiative zur Versöhnung – progressiv als Ausdruck göttlicher bedingungsloser Annahme gelesen. |
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