Judas Iskariot – Vom Jünger zum Verräter
- vw1575
- 17. Apr.
- 4 Min. Lesezeit
1. Einleitung
Judas Iskariot ist eine der ambivalentesten Figuren des Neuen Testaments. Als einer der Zwölf berufen (Mk 3,19), wird er später zum Inbegriff des Verräters. Die Evangelien berichten von seinem Verrat Jesu, seiner Reue, seinem Tod – doch die Deutung seiner Tat und seines Schicksals bleibt theologisch bis heute umstritten. War Judas Werkzeug eines göttlichen Plans? Hatte er eine Wahl? Ist seine Schuld unverzeihlich? Und was sagt das über die Möglichkeit von Vergebung und Gnade aus?
2. Judas in den Evangelien
2.1 Berufung und Rolle unter den Zwölf
Alle synoptischen Evangelien und das Johannesevangelium nennen Judas Iskariot als einen der zwölf Jünger (Mk 3,19; Mt 10,4; Lk 6,16; Joh 6,71). Der Beiname „Iskariot“ wird häufig als Herkunftsangabe verstanden – möglicherweise „Mann aus Keriot“ – oder als Verweis auf eine Sekte oder Gruppenzugehörigkeit (z. B. Sikarier, Zeloten).
Judas verwaltet nach Joh 12,6 die gemeinsame Kasse – eine Rolle, die retrospektiv mit Korruption und Habgier in Verbindung gebracht wird.
2.2 Der Verrat
Der entscheidende Wendepunkt kommt in den Passionsberichten. Judas bietet sich den Hohenpriestern an, Jesus auszuliefern, und erhält dafür Geld – traditionell 30 Silberstücke (Mt 26,15). Der Verrat geschieht schließlich mit einem Kuss (Mk 14,44–45 par.), einem Zeichen für die Festnahme Jesu.
Die Evangelisten deuten unterschiedlich, was Judas zu dieser Tat bewegte:
• Markus bleibt vage: „Und Judas…ging hin zu den Hohenpriestern, dass er ihn ihnen überlieferte“ (Mk 14,10).
• Matthäus betont das Motiv des Geldes (Mt 26,15), berichtet aber auch von der Reue (Mt 27,3–5).
• Lukas nennt den Einfluss Satans als Antrieb (Lk 22,3).
• Johannes verstärkt dies: Der Teufel „hatte dem Judas…es ins Herz gegeben“ (Joh 13,2); später fährt Satan in ihn (Joh 13,27).
In Joh 17,12 nennt Jesus Judas „den Sohn des Verderbens“, „damit die Schrift erfüllt würde“ – ein Hinweis auf seine Funktion im göttlichen Plan.

3. Der Tod des Judas – Zwei Versionen
3.1 Matthäus 27,3–10
Nach dem Verrat empfindet Judas Reue. Er bringt die 30 Silberlinge zurück und sagt: „Ich habe gesündigt, dass ich unschuldiges Blut verraten habe.“ Als seine Reue abgewiesen wird, wirft er das Geld in den Tempel, geht fort und erhängt sich. Die Priester kaufen mit dem Geld den „Acker des Töpfers“, der später als „Blutacker“ bekannt wird.
Diese Szene betont Schuld, aber auch Reue – Judas handelt eigenverantwortlich und scheint sich zu seiner Tat zu bekennen.
3.2 Apostelgeschichte 1,16–20
Hier wird eine andere Version erzählt: Judas kauft mit dem Lohn des Verrats einen Acker, „stürzt vornüber, platzt mitten entzwei, und alle seine Eingeweide quellen heraus“. Diese dramatische Darstellung steht in der Tradition von Vergeltungserzählungen. Vom Selbstmord ist hier keine Rede. Der Acker wird auch hier „Blutacker“ genannt.
Die Unterschiede lassen sich vermutlich auf verschiedene Überlieferungstraditionen zurückführen, die sich theologisch unterschiedlich zuspitzen.
4. Der theologische Status des Judas
4.1 „Wehe dem Menschen…“ (Mt 26,24)
Jesus sagt beim Abendmahl: „Der Menschensohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre besser für ihn, wenn dieser Mensch nie geboren wäre.“
Dieser Satz ist einer der stärksten Hinweise auf die schwerwiegende Schuld, die mit dem Verrat verbunden ist. Doch der Kontext bleibt ambivalent: Einerseits ist von göttlicher Vorherbestimmung („wie geschrieben steht“) die Rede, andererseits von individueller Schuld.
Liberale Exegeten betonen hier die Spannung zwischen göttlicher Allmacht und menschlicher Freiheit. Fundamentalistische Interpretationen hingegen sehen Judas oft als von Satan besessen, als Werkzeug des Bösen ohne Möglichkeit zur Umkehr.
4.2 Möglichkeit der Vergebung?
Die entscheidende Frage ist: Kann Judas vergeben werden?
a) Biblischer Befund
• Im Gegensatz zu Petrus, der Jesus ebenfalls verleugnet, wird Judas keine Rehabilitierung zuteil.
• Dennoch zeigt Mt 27,3–5 ein echtes Schuldbewusstsein.
• Nirgends wird explizit gesagt, dass Gott Judas nicht vergeben habe. Der Satz „es wäre besser, wenn er nicht geboren wäre“ ist ein Ausdruck tiefster Tragik – aber kein dogmatischer Ausschluss von Gnade.
b) Frühchristliche und theologische Deutung
• Die Kirchenväter (Augustinus u. a.) sahen Judas meist als verdammt.
• Im Mittelalter wurde Judas zum Inbild des Verrats und der Verlorenheit – häufig auch antisemitisch aufgeladen.
• aber wäre es nicht geradezu ein Skandal, wenn die Gnade Gottes nicht auch Judas gelten könnte?
• Im gnostischen Judas-Evangelium aus Nag Hammadi wird Judas als Erfüller eines göttlichen Plans dargestellt – möglicherweise sogar als den einzig „wahren“ Jünger.
5. Judas als Projektionsfläche
Judas ist nicht nur historisch oder theologisch interessant, sondern auch psychologisch und literarisch:
• Er steht für gebrochene Loyalität, für innere Zerrissenheit, für Schuld und Verzweiflung.
• Seine Figur spiegelt zentrale Fragen: Gibt es Handlungen, die unverzeihlich sind? Was passiert mit Menschen, die bereuen, aber keinen Zugang mehr zur Gemeinschaft finden?
6. Fazit: Verdammnis oder Möglichkeit zur Gnade?
Judas ist kein dämonischer Schattenmann, sondern eine tragische Figur im Zentrum der Heilsgeschichte. Er war Jünger, Verwalter, Verräter – und ein Mensch, der Reue zeigte.
Ob ihm vergeben wurde, bleibt offen. Vielleicht ist genau das seine theologische Bedeutung: Judas steht für die radikale Möglichkeit des Scheiterns und für die Frage, ob Gnade wirklich allen gilt – selbst den scheinbar Unverzeihlichen.
Sein Suizid (in der matthäischen Version) ist kein Zeichen der Verstockung, sondern der Verzweiflung. Es bleibt eine Leerstelle – vielleicht damit sich jede:r mit ihr auseinandersetzt.
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