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Lot, seine Töchter und sein Dilemma

  • vw1575
  • 9. Apr.
  • 3 Min. Lesezeit

Die Geschichte von Lot in Genesis 19 ist für viele Leserinnen und Leser ein Schock. Nicht nur, weil sie den dramatischen Untergang von Sodom schildert, sondern vor allem wegen einer Szene, die schwer zu ertragen ist: Lot bietet den männlichen Einwohnern von Sodom seine beiden Töchter zur Verfügung, um zwei fremde Männer (in Wirklichkeit Engel) zu schützen, die er als Gäste bei sich aufgenommen hat.


"Siehe, ich habe zwei Töchter, die haben noch keinen Mann erkannt; die will ich zu euch hinausführen, und ihr könnt mit ihnen tun, was euch gefällt. Nur diesen Männern tut nichts, denn sie sind unter den Schatten meines Daches gekommen." (Gen 19,8)


Diese Aussage ist verstörend. Sie berührt Fragen nach Moral, Macht, Gastfreundschaft und Geschlechterverhältnissen in einer Weise, die sowohl historisch als auch theologisch eine differenzierte Auseinandersetzung verlangt.


Antike Gastfreundschaft als heiliger Schutzraum


Im Alten Orient war Gastfreundschaft keine private Gefälligkeit, sondern ein kulturell tief verankertes Gebot. Wer einen Gast aufnahm, übernahm für dessen Schutz die volle Verantwortung. Der Gast stand unter dem Schutz des Hauses, ja fast unter dem Schutz Gottes selbst. Lot versucht also, seinem kulturellen und religiösen Ethos zu entsprechen, indem er die Gäste um jeden Preis schützt.



Doch der Preis ist hoch: seine eigenen Töchter. Aus heutiger Sicht wirkt das moralisch nicht nur verfehlt, sondern geradezu pervers. Und tatsächlich ist es wichtig festzuhalten: Die Bibel bewertet Lots Angebot nicht positiv. Weder wird seine Tat gerechtfertigt noch gelobt. Vielmehr bleibt der Text an dieser Stelle auffallend kommentarlos. Die kritische Reflexion bleibt dem Leser überlassen.


Biblische Parallelen: Die Levitenkonkubine in Richter 19


Eine fast identische Szene findet sich in Richter 19: Ein Levit und seine Nebenfrau übernachten in Gibea. Auch hier umringen männliche Stadtbewohner das Haus und verlangen nach sexueller Gewalt gegen den Gast. Der Hausherr bietet daraufhin seine Tochter und die Nebenfrau an:


"Seht, meine Tochter, die noch Jungfrau ist, und seine Nebenfrau – die will ich hinausbringen; die könnt ihr schänden und mit ihnen tun, was euch gefällt." (Ri 19,24)


Die Geschichte endet tragisch: Die Nebenfrau wird vergewaltigt und stirbt. Diese Szene ist noch drastischer als Genesis 19 und endet in einem Bürgerkrieg. Auch hier steht der Schutz des Gastes über dem Schutz der Frauen. Die Parallele ist nicht zufällig, sondern bewusst erzählt – um zu zeigen, wie tief eine Gesellschaft moralisch sinken kann.


Außerbiblische Parallelen: Gastfreundschaft in Antike und Orient


Auch außerhalb der Bibel ist Gastfreundschaft ein zentrales Thema. In Homers "Odyssee" ist "xenia", das Gastrecht, ein heiliger Wert. Gäste werden aufgenommen, versorgt und beschützt, ohne nach Herkunft oder Absicht zu fragen. Die Verletzung dieses Rechtes galt als Vergehen gegen die Götter.


In altorientalischen Texten (z. B. aus Mari oder Nuzi) wird Gastfreundschaft ebenfalls als Verpflichtung beschrieben. Doch nirgends findet sich ein Beispiel dafür, dass der Gastgeber seine Familie opfert, um Gäste zu schützen. Insofern ist Lots Handeln nicht Ausdruck einer allgemein anerkannten Norm, sondern ein Extremfall, der das moralische Dilemma pointiert.


Theologische Einordnung


In der jüdischen Auslegungstradition (z. B. im Midrasch) wird Lot für sein Verhalten kritisiert. Es heißt, er habe das Prinzip der Gastfreundschaft überdehnt und sich dadurch moralisch verfehlt. In der christlichen Tradition schweigen viele Kirchenväter zu dieser Szene oder deuten sie allegorisch. In der modernen Exegese wird betont, dass der Text selbst keine positive Wertung vornimmt. Vielmehr zeigt er eine Welt, in der selbst der "Gerechte" (vgl. 2 Petr 2,7) tief in eine zerrüttete Ordnung verstrickt ist.


Lots Angebot ist kein Vorbild, sondern ein Spiegel: Was geschieht, wenn gesellschaftliche Werte wie Gastfreundschaft absolut gesetzt werden und andere ethische Grundwerte verdrängen?


Fazit


Die Geschichte von Lot, seinen Töchtern und den Engeln konfrontiert uns mit einem Dilemma: Sie zeigt, wie aus einem moralischen Ideal (Gastfreundschaft) ein moralisches Versagen werden kann, wenn es ohne Abwägung und ohne menschliche Würde durchgesetzt wird. Die Bibel erzählt diese Geschichte nicht, um sie zu rechtfertigen, sondern um uns zu warnen: Auch das Gute kann pervertiert werden, wenn es nicht in Verantwortung, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit eingebettet bleibt.

 
 
 

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