Verstehen "Bekehrte" die Bibel „richtiger“?
- vw1575
- vor 3 Tagen
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Warum gute Exegese nicht durch Wiedergeburt ersetzt werden kann
In manchen evangelikalen und charismatischen Kreisen hört man sinngemäß: „Nur wer wiedergeboren ist, kann die Bibel wirklich verstehen.“ Diese Vorstellung beruft sich auf eine geistliche Exklusivität: Nicht akademische Bildung, historische Kritik oder sprachliche Kompetenz seien entscheidend, sondern die innere Erleuchtung durch den Heiligen Geist. Der „geistlich Tote“ könne die Schrift nicht erfassen – erst die persönliche Bekehrung öffne das Herz für die Wahrheit Gottes.
Was zunächst nach tiefer Frömmigkeit klingt, ist bei näherem Hinsehen ein problematisches hermeneutisches Modell. Denn es erhebt subjektive religiöse Erfahrung zur Norm und stellt sich damit über jeden wissenschaftlichen oder kirchlichen Diskurs. Die Konsequenz: Jeder, der sich als „wiedergeboren“ versteht, beansprucht eine höhere Autorität als Theologie, kirchliche Auslegung oder jahrhundertelange Bibelarbeit – ganz gleich, ob er Griechisch kann oder je ein Bibelkommentar geöffnet hat.
Was ist Hermeneutik überhaupt?
Die Hermeneutik ist die Kunst und Wissenschaft des Verstehens von Texten – insbesondere von solchen, die aus einer anderen Zeit, Kultur und Sprache stammen. In der Theologie unterscheidet man zwischen zwei Kernbegriffen:
• Exegese: Die methodisch kontrollierte Auslegung eines Textes unter Berücksichtigung von Grammatik, Syntax, historischen Kontexten und literarischer Form.
• Hermeneutik im engeren Sinne: Die Reflexion auf die Bedingungen, unter denen ein Text überhaupt verstanden werden kann. Sie fragt etwa: Was bringt ein Leser an Vorverständnissen mit? Was will der Text ursprünglich sagen? Wie verhält sich mein heutiges Verständnis zur Intention des Autors?
Die klassische historisch-kritische Methode, wie sie seit dem 19. Jahrhundert entwickelt wurde, gliedert sich in verschiedene Teilschritte: Textkritik, Literarkritik, Form- und Traditionsgeschichte, Redaktionsgeschichte und religionsgeschichtlicher Vergleich. Ziel ist es, einen Text möglichst in seinem ursprünglichen Sinnzusammenhang zu verstehen – nicht losgelöst von Glaube, aber auch nicht durch Glaube ersetzt.
Die moderne Hermeneutik betont zusätzlich die Rolle des Lesers. Jeder Auslegungsvorgang ist ein Dialog: zwischen Text und Leser, zwischen Damals und Heute. Auch wenn der Glaube die Offenheit für diesen Dialog mitprägt, garantiert er nicht automatisch ein besseres Verständnis.
Der Glaube zielt auf (nachprüfbares) Verstehen
Das klassische Prinzip fides quaerens intellectum – „der Glaube, der das Verstehen sucht“ – bringt diese Spannung auf den Punkt. Es stammt von Anselm von Canterbury und bedeutet: Der Glaube ist nicht der Feind des Verstandes, sondern sein Antrieb. Wer glaubt, will verstehen. Diese Haltung steht quer zu jeder Haltung, die sich mit einem „Der Geist hat mir’s gesagt“ über jede theologische Kritik hinwegsetzt. Vielmehr fordert sie dazu auf, das Erkannte zu prüfen, zu argumentieren, zu durchdenken – in der Hoffnung, dem Sinn des biblischen Textes näher zu kommen.
In diesem Zusammenhang kann auch das Ockham’sche Rasiermesser helfen: Von mehreren Deutungsmöglichkeiten ist diejenige vorzuziehen, die mit den wenigsten Annahmen auskommt. Das heißt konkret: Wenn sich ein Bibeltext durch seinen historischen Kontext, durch Grammatik und Gattung erschließen lässt, dann braucht es keine spekulativen inneren Offenbarungen, um seine Bedeutung zu „erkennen“. Nicht jede religiöse Eingebung ist automatisch tiefsinnig – manchmal ist sie nur eine Projektion. Eine gute Hermeneutik prüft deshalb, was notwendig ist – und was nur frommes Beiwerk.

Der sogenannte sensus spiritualis
Die Idee, dass nur der Geistliche die wahre geistliche Bedeutung eines Textes erfassen kann, ist nicht neu. Schon in der frühkirchlichen Schriftauslegung wurde zwischen dem sensus litteralis (wörtlicher Sinn) und dem sensus spiritualis (geistlicher Sinn) unterschieden. Spätestens mit der Reformation wurde jedoch deutlich, dass der Bibeltext grundsätzlich klar zugänglich ist (perspicuitas scripturae) – für alle, die ihn mit Verstand, Ernst und Vertrauen lesen, nicht nur für ein spirituell privilegiertes „Inner Circle“.
Warum der Anspruch ins Leere läuft
Selbst innerhalb der bekehrten und wiedergeborenen Gemeinden ist die Bibelauslegung keineswegs einheitlich. Im Gegenteil: Es gibt zahllose widersprüchliche Deutungen – über Schöpfung und Evolution, über das Abendmahl, über das Ende der Welt, über das Verhältnis von Glaube und Werken. Wenn tatsächlich ein göttlicher Geist die eine wahre Bedeutung offenbaren würde, warum gibt es dann so viele verschiedene „göttliche Erkenntnisse“?
Die Antwort liegt nahe: Auch gläubige Menschen legen Texte nicht nur unter göttlicher Inspiration, sondern auch unter dem Einfluss ihrer Tradition, Kultur, Sprache, Biografie und Vorurteile aus. Der Heilige Geist ist – wenn überhaupt – kein Ersatz für sorgfältiges Lesen, historisches Wissen, literarisches Gespür und theologische Reflexion.
Glaube und Verstand gehören zusammen
Gegenüber einem rein rationalistischen Zugang zur Bibel bleibt es wichtig, die spirituelle Dimension nicht zu vernachlässigen. Wer biblische Texte nur als historische Dokumente analysiert, verfehlt ihren Anspruch. Doch ebenso falsch ist es, dem „inneren Leuchten“ mehr Gewicht zu geben als dem Text selbst. Luther selbst bestand darauf: sola scriptura – nicht sola emotio.
Wirklich fruchtbare Bibelauslegung lebt vom Dialog: zwischen Frömmigkeit und Verstand, zwischen Texttreue und Kontextsensibilität, zwischen historischer Forschung und existenzieller Deutung. Die Behauptung, nur Wiedergeborene könnten das Wort Gottes verstehen, ist letztlich ein hermeneutischer Kurzschluss – und eine Gefahr für jedes theologische Gespräch.
Diesen Text habe ich mit Hilfe von KI erstellt. Er spiegelt meine Meinung wider.
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