Abraham, Lot und die Rettung aus Sodom – Verhandlung, Widerstand und Gnade unter Vorbehalt
- vw1575
- 11. Apr.
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Die Erzählung von der Zerstörung Sodoms und Gomorras (Genesis 18–19) ist eine der dramatischsten Szenen der hebräischen Bibel. Sie schildert nicht nur die Vernichtung einer Stadt, sondern auch das Ringen zwischen Gerechtigkeit und Gnade, zwischen menschlicher Verantwortung und göttlichem Eingreifen. Besonders bemerkenswert ist die doppelstrukturierte Verhandlung: Abraham, der mit Gott um das Leben der Gerechten ringt, und Lot, der mit den Engeln um sein eigenes Schicksal feilscht. Beide stehen zwischen zwei Welten – der untergehenden Stadt und dem Ruf Gottes zur Rettung. Und beide verlieren etwas auf dem Weg.
Abraham und Gott: Eine theologische Verhandlung
In Genesis 18 erfährt Abraham von dem geplanten Gericht über Sodom. Er tritt vor Gott mit einer kühnen Bitte:
"Willst du auch den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?" (Gen 18,23)
Es beginnt ein bemerkenswerter Dialog: Abraham verhandelt wie ein Profi. Er beginnt bei 50 Gerechten und endet bei 10. Immer wieder bittet er Gott um Nachsicht, immer wieder gewährt Gott sie. Formal betrachtet ist es ein rhetorisches Feilschen, aber theologisch ist es ein Ausdruck von Verantwortung: Abraham nimmt Anteil am Schicksal der Stadt, obwohl er nicht dort lebt. Er fordert nicht blinde Gnade, sondern Gerechtigkeit, die das Gute nicht dem Bösen preisgibt.
Diese Szene ist einzigartig: Der Mensch spricht mit Gott nicht nur als Bittsteller, sondern als Mitdenker. Abraham ringt Gott Gnade ab – und Gott lässt sich darauf ein. Doch am Ende schweigt Gott, als die Zahl Zehn erreicht ist. Die Zahl bleibt unterschritten. Das Urteil steht fest.
Lot und die Engel: Rettung wider Willen
In Genesis 19 hat der Fokus sich verschoben: Nun steht Lot im Zentrum, der in Sodom lebt. Zwei Engel besuchen ihn. Lot bietet ihnen Gastfreundschaft – eine Geste, die in der antiken Welt als heilig galt. Doch als die Männer der Stadt sich gewaltsam Zutritt zu den Fremden verschaffen wollen, bietet Lot ihnen stattdessen seine Töchter an. Eine moralisch fragwürdige Entscheidung, die viel über die Verzweiflung, aber auch über die patriarchalen Werte jener Zeit aussagt.
Lot wird von den Engeln gewarnt, die Stadt zu verlassen. Doch er zögert. Er muss fast mit Gewalt hinausgeführt werden:
"Als er aber zögerte, ergriffen die Männer seine Hand und die Hand seiner Frau und seiner beiden Töchter – in des HERRN Erbarmen über ihn – und führten ihn hinaus." (Gen 19,16)
Die Rettung geschieht trotz Lots Zögern. Gottes Gnade überwältigt seinen Widerstand. Und doch: Lot verhandelt. Er will nicht auf das Gebirge fliehen, wie es die Engel fordern. Er bittet um die kleine Stadt Zoar. Auch hier: der Wunsch, Kontrolle zu behalten, während das eigene Leben auseinanderfällt.

Die Konsequenzen: Ein gerettetes Leben, ein zerstörter Mensch
Die Rettung Lots ist kein Happy End. Seine Frau blickt zurück und wird zur Salzsäule. Lot selbst endet in einer Höhle, betrunken, missbraucht von seinen Töchtern. Was als Rettung beginnt, wird zum existenziellen Absturz. Die moralische Spannung dieser Texte ist immens: Der eine ringt für die Stadt und verliert sie. Der andere wird gerettet und verliert fast alles.
Theologische Deutung
1. Abrahams Verhandlung ist ein Meilenstein biblischer Gottesvorstellung: Der Mensch darf mit Gott sprechen, widersprechen, verhandeln. Gott ist kein starrer Richter, sondern ein Gegenüber, das sich auf Beziehung einlässt.
2. Lots Geschichte ist die Kehrseite: Gnade wird nicht erbeten, sondern aufgezwungen. Sie rettet sein Leben, aber nicht seine Würde. Die Geschichte zeigt: Wer sich der Bewegung Gottes nur halb anschließt, wird nicht wirklich heil.
3. Gottes Handeln ist barmherzig, aber nicht beliebig. Es gibt eine Grenze, die auch Gnade nicht überschreitet. Abraham kann den Untergang nicht abwenden, Lot kann ihm nicht ganz entkommen. Der Preis der Rettung ist hoch: Familie, Heimat, Selbstachtung.
Fazit
Genesis 18–19 ist keine simple Gerichtserzählung. Es ist ein vielstimmiges Drama über Verantwortung, Feigheit, Gnade und Verlust. Abraham wird zum Vorbild für das Ringen mit Gott. Lot wird zur warnenden Figur: gerettet, aber gebrochen. Und Gott bleibt nicht der strafende Richter, sondern der, der handelt – im Spannungsfeld von Recht und Erbarmen. Die Geschichte fragt nicht nur, ob Gott gerecht ist. Sie fragt auch, ob wir bereit sind, dem zu folgen, was er uns rettend entgegenhält.
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